Aus Liebe zum Leben
Der Tod gehört zum Leben – und für Andrea Hoffmann zum Alltag. Die Palliativpflegerin begleitet Menschen auf ihrem letzten Lebensweg und will ihren Beruf gegen keinen anderen in der Welt eintauschen.
Andrea Hoffmann schiebt den Visitenwagen ans Bett von Frau Klein. Frau Klein ist 77 Jahre alt und wird nicht mehr lange leben. Einige Tage, vielleicht Wochen. Auf dem Fensterbrett stehen Glockenblumen und Tulpen. Die Frühlingssonne taucht das Zimmer in leuchtende Farben. Frau Klein zupft ihre Rüschenbluse zurecht. „Sitzt meine Frisur?“, lacht sie und Andrea Hoffmann lacht mit. Als pflegerische Leiterin auf einer Palliativstation ist sie Tag für Tag mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert – und motiviert sich trotzdem immer wieder, mit einem Lächeln zur Arbeit zu gehen.
Die meisten Menschen sprechen nicht über den Tod und geben ihm keinen Platz im Alltag. Auf der Palliativstation des Josephs-Hospitals in Warendorf ist das nicht so. Hier gehört der Tod dazu. Hier landen unheilbar erkrankte und austherapierte Menschen, für die der Tod unausweichlich ist. Was sich trist und bedrückend anhört, sieht in der Realität aber ganz anders aus. Die Zimmer sind freundlich und lichtdurchflutet. Im Aufenthaltsraum sitzen zwei ältere Herren bei einer Tasse Kaffee zusammen. Es herrscht eine warme, offene Atmosphäre. „Das hier ist keine Trauerstation“, sagt Andrea Hoffmann.
Die gelernte Krankenschwester hat mehr als 20 Jahre in der Inneren Medizin des Josephs-Hospitals gearbeitet. Nach einer 160-stündigen Weiterbildung entschied sie sich 2016, auf die neu geschaffene Palliativstation zu wechseln.
Es ist eine herausfordernde Tätigkeit, die einem viel abverlangt, aber auch sehr viel gibt. Für mich ist es einer der schönsten Berufe, die es gibt.
Das Thema Sterben werde häufig an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Außenstehende würden oft fragen, warum sie ihren Beruf so sehr liebe. Für Andrea Hoffmann ist das leicht zu beantworten: Die Dankbarkeit und Wertschätzung der Patienten würden ihr jedes Mal aufs Neue beweisen, das Richtige zu tun. Ein privater Schicksalsschlag hat sie einst dazu bewogen, sich mit der Endlichkeit des Seins auseinanderzusetzen – und darin bestärkt, Sterbende zu begleiten. „Mein Vater starb an Krebs, und so haben meine Familie und ich miterlebt, wie gut es ihm tat, den letzten Lebensweg nicht alleine zu gehen.“
Den Tagen mehr Leben geben
Das Ziel der klassischen Medizin ist es, zu heilen. Die Palliativmedizin will Leiden lindern, wo Heilung nicht mehr möglich ist. Sie will die Lebensqualität der Menschen steigern, ganz gleich, wie kurz die verbleibende Zeit sein mag. Zwei bis drei Wochen liegen die Patienten in der Regel auf einer Palliativstation, bis sie entweder nach Hause mit ambulanter Unterstützung, in ein Pflegeheim oder Hospiz entlassen werden. Menschliche Nähe und Zuwendung sind in dieser Zeit die wichtigste Währung. Andrea Hoffmann hört zu, tröstet, manchmal hält sie auch einfach nur die Hand der Erkrankten. „Es entsteht ein so enges Vertrauensverhältnis zu den Patienten und Angehörigen. Das ist schon etwas ganz Besonderes“, schwärmt die pflegerische Leiterin.
Unterstützung erfährt sie dabei von einem fächerübergreifenden Team aus Krankenschwestern, Palliativ-Care-Fachkräften, Psychologen, Seelsorgern, Sozialarbeitern und unterschiedlichen Therapeuten. Die ganzheitliche Therapie ermöglicht es, Symptome, aber auch Wünsche der Patienten zu entdecken, die sonst vermutlich verborgen blieben. Die Bedürfnisse reichen von Medikamenten über Massagen und Aromaöle bis hin zu Lieblingsmahlzeiten. Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben – dieser Leitgedanke prägt die Arbeit des ganzen Teams.
Die lebensfrohe Frau erinnert sich gerne an die schönen und faszinierenden Momente, die sie in den letzten Jahren erleben durfte. Unvergessen bleibt ihr eine Patientin, die kurz vor ihrem Tod ein letztes Mal den Tanzfilm „Dirty Dancing“ schauen wollte. „Also hat sich eine Kollegin zusammen mit ihr vor den Fernseher gesetzt und gemeinsam geschmachtet. Das war toll“, lacht die 45-Jährige.
Die Wurzeln der Palliativmedizin
Den Weg in den Tod neu zu überdenken und sterbenskranken Menschen im sozialen und spirituellen Bereich beizustehen: Dieser Vision widmete sich Dr. Cicely Saunders (1918-2005), die als Wegbereiterin der modernen Palliativmedizin gilt. Seither setzen sich Palliativstationen das Ziel, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern und sie zum Sterben nach Hause oder in ein Hospiz zu entlassen.
Auf die innere Haltung kommt es an
Derart unbeschwert wie beim „Dirty Dancing“-Abend geht es aber natürlich nicht immer zu. Der Tod und Momente der Trauer sind auf einer Palliativstation allgegenwärtig. Die meisten der unheilbar erkrankten Patienten leiden an Krebs. Und der macht auch vor jüngeren Menschen nicht halt. Oft reißt die Diagnose den Menschen den Boden unter den Füßen weg und lässt sie verzweifeln. Und das gilt nicht nur für die Patienten und Angehörigen, sondern hin und wieder auch für die Pflegerinnen.
„Natürlich gibt es Fälle, die auch uns zum Weinen bringen und die wir mit nach Hause nehmen“, räumt Andrea Hoffmann ein. Trotzdem schöpft sie immer wieder neue Motivation, zur Arbeit zu gehen – und sterbenden Menschen Zeit und Mut zu schenken. Ein festes privates Fundament, Ausgeglichenheit und der enge Austausch mit dem Team helfen ihr, loszulassen und abzuschalten. Und so sieht sie sowohl die schönen als auch die traurigen Momente auf der Arbeit als einzigartige Erfahrungen, die sie bereichern. „Palliativmedizin ist eine innere Haltung“, ist Andrea Hoffmann überzeugt. Gefragt sind Empathie, Fingerspitzengefühl und Intuition, um helfen zu können und eine persönliche Beziehung aufzubauen.
Wir schenken den Menschen Zeit, Kraft und Trost – und bekommen dafür unendlich viel Liebe zurück.
Es ist ein schöner, sonniger Frühlingstag. Durch das gekippte Fenster strömt frische, klare Luft. Die Tulpen blühen in kräftigem Rot. Andrea Hoffmann hilft Frau Klein in den Rollstuhl und schiebt sie in den Aufenthaltsraum. Die alte Dame freut sich: Die älteste Tochter kommt heute zu Besuch. Und auch Andrea Hoffmann freut sich: auf den nächsten Arbeitstag und Erfahrungen, die sie immer wieder aufs Neue motivieren.