Geburtsverletzungen – wie Sie das Risiko für Dammriss & Co. senken
Den Moment, in dem ich riss, werde ich nicht vergessen. Die Hebamme sah Milos Haare schon, er war schon fast da. Doch sein Kopf steckte im Geburtskanal fest. Er kam nicht weiter. „Das Kind kriegt jetzt ein bisschen Stress“, sagte die Hebamme mit Blick aufs CTG und Milos schnellen Herzschlag. Die Wehen hatten nachgelassen. Ich spürte, dass der Kopf so nicht durch mich durchpasste. „Du musst pressen!“ sagte die Hebamme. Also presste ich. Mit all meiner Kraft. Und riss. Es klang wie ein lautes Ploppen, als meine Scheide und meine rechte Schamlippe borsten.
Geburtsverletzungen – 8 von 10 Erstgebärenden erleiden sie
Fast jede gebärende Frau erleidet im Laufe ihres Lebens mindestens einmal eine Geburtsverletzung: Laut den beiden Hebammen und Buchautorinnen Dr. Sara Kindberg und Peggy Seehafer machen 8 von 10 Erstgebärenden und jede zweite Zweitgebärende diese Erfahrung. Laut Tagesspiegel setzt bei etwa jeder 10. Krankenhausgeburt der Arzt einen Dammschnitt. Dieser Eingriff zählt ebenfalls zu den Geburtsverletzungen. Er wird vorgenommen, um den Scheidenausgang zu vergrößern, damit der Kopf des Kindes besser hindurchpasst. So vermeidet der Arzt schwerere Geburtsverletzungen oder beschleunigt die Geburt, wenn es dem Kind nicht gut geht.
Welche Geburtsverletzungen gibt es?
Während einer vaginalen Geburt können verschiedene Verletzungen im gesamten Intimbereich der Frau auftreten:
- an Schamlippen
- Vagina
- Damm
- am Gebärmutterhals
- am Beckenbodenmuskel
- am Aufhängeapparat der inneren weiblichen Geschlechtsorgane
- am Schließmuskel
Bei einem Dammriss handelt es sich meist um oberflächliche Hautrisse oder kleine Verletzungen der Dammmuskulatur. Schwere Geburtsverletzungen, bei denen der Schließmuskel oder die Darmschleimhaut einreißen, treten nur sehr selten auf.
Scheidenriss Narbe schmerzt
Der Gynäkologe, der mich während der Geburt betreut hatte, nähte Scheide und Schamlippe unter örtlicher Betäubung wieder zusammen. In den Tagen und Wochen danach spannte und schmerzte die Scheidennaht immer wieder, vor allem im Sitzen und beim Stuhlgang. Meine Hebamme, die mich vor und nach der Geburt betreute, entfernte die Fäden, das linderte die Schmerzen ein wenig. Damals machte ich mir noch keine Sorgen. Ich dachte, das würde alles in ein paar Wochen verheilen und wäre dann wie vorher.
Beschwerden beim Sex
Sieben Wochen nach der Geburt wollten mein Mann und ich das erste Mal wieder miteinander schlafen. Er konnte jedoch nicht in mich eindringen, so weh tat es. Die Narbe bildete eine unüberwindbare, schmerzhafte Barriere. Der Geschlechtsakt, das, was sich einmal so schön angefühlt hatte, schmerzte plötzlich. Ich war geschockt. Und hatte Angst, dass es für immer so bleiben würde.
Meine Frauenärztin sagte, es dauere mitunter ein halbes Jahr, bis sich das Narbengewebe dehne, ich müsse Geduld haben. Ihre Kollegin hatte mir eine Östrogencreme verschrieben. Ich nahm sie nicht, weil ich befürchtete, das Hormon gehe in die Muttermilch über.
Traumatisiert von der Geburt
Die Geburt hat mich traumatisiert. Ich fand es krass, dass ich mich als Mutter ein Stück weit mutwillig zerstören musste, um mein Kind auf die Welt zu bringen. Ich hatte meine Verletzung in Kauf genommen, um meinen Sohn unversehrt zu gebären. „Du musstest dich nicht zerstören, um dein Kind auf die Welt zu bringen“, korrigiert mich Alexandra Löschen, seit 17 Jahren freiberufliche Hebamme aus Aurich (storchennest-aurich.de). „Dein Kind musste schnell zur Welt kommen, und dabei bist du gerissen.“ Ein feiner, aber wichtiger Unterschied, wird mir klar.
Wie entstehen Geburtsverletzungen
„Geburtsverletzungen entstehen, wenn ein Kind am Ende der Geburt zu schnell und ungebremst aus der Scheide austritt“, erklärt Alexandra Löschen. Bei einem zu hohen Tempo hätten Geburtskanal und Gewebe nicht genug Zeit, sich ausreichend zu dehnen.
Das richtige Geburtstempo beim Durchtreten des Kopfes ist das Wichtigste, um Dammverletzungen vorzubeugen. (Prof. Dr. Roland Zimmermann)
Der Kopf des Kindes solle millimeterweise durch den Beckenboden treten, damit das Dammgewebe sich anpassen kann, sagt Prof. Dr. Roland Zimmermann, Direktor der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich (USZ), gegenüber dem schweizer Elternmagazin Wir Eltern. Die Frau solle sich in der letzten Geburtsphase deshalb Zeit lassen und nicht übermäßig pressen. Um die Austrittsgeschwindigkeit zu verlangsamen, könne die werdende Mutter manchmal – angeleitet von der Hebamme – die Wehen verhecheln oder ausatmen, sagt Alexandra Löschen. Damit drücke sie den Kopf langsam weiter. Die Hebamme lege zudem ihre Hand auf den Kopf des Kindes und bremse so die Geschwindigkeit, in der er austritt.
Wehen als natürlicher Schutz
Durch die Wehen schütte der Körper einen Hormoncocktail aus, der unter anderem die Haut besonders dehnbar mache, sagt Alexandra Löschen. Die Wehen gäben zudem vor, wie lange die Gebärende presse. Auf natürliche Weise sorge der Körper so dafür, dass die Frau nicht zu lange presse und das Gewebe reiße. Gebäre die Frau ohne PDA, bekomme sie das in der Regel gut mit. Müsse die Frau jedoch wie in meinem Fall das Kind fast ohne Wehen rauspressen, sei dieser Schutzmechanismus außer Kraft. Ohne Wehen fehle zudem die Schubkraft der Gebärmutter, die bei der Geburt einer der größten Muskeln des Körpers ist.
Du wärst wahrscheinlich nicht gerissen, wenn der Arzt nicht von oben gedrückt hätte. (Alexandra Löschen, Hebamme)
Der Arzt, der Milos Geburt begleitete, hatte mich aufgefordert, mich von der Seite auf den Rücken zu drehen. Andernfalls müsste er einen Dammschnitt setzen. Gegen Ende der Geburt drückte er mir oben auf den Bauch, um Milo weiterzuschieben. Dadurch sei es keine natürliche Geburt mehr, erklärt Alexandra Löschen. Durch das Drücken komme der Kopf des Kindes schneller durch den Geburtskanal. In dem Moment, wo Arzt oder Hebamme von außen in die Geburt eingriffen, steige das Risiko für eine Geburtsverletzung. „Wahrscheinlich wärst du gar nicht gerissen, wenn der Arzt nicht von oben gedrückt hätte“, vermutet sie.
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Geburtsverletzungen – verschiedene Faktoren spielen eine Rolle
Dr. Nina Kimmich, Oberärztin an der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich (USZ), erforscht Beckenboden- und Geburtsverletzungen. Ob eine Frau Geburtsverletzungen erleide, beeinflussten viele verschiedene, kombinierte Faktoren, sagt Kimmich. Neben den bereits genannten spielen diese Faktoren eine Rolle:
- gutes oder weniger gutes Bindegewebe der Frau
- Größenverhältnis von Kind zu Geburtskanal
- Position des Kindes im Geburtskanal („müssen wie Schloss und Schlüssel zusammenpassen“)
- Anzahl bereits stattgefundener Geburten („bei der ersten Geburt passieren grundsätzlich mehr Verletzungen“)
- das Verletzungsmuster sei abhängig vom Verletzungsmuster vorhergehender Geburten
- Geburtsmodus (spontan vs. Saugglocke vs. Zangengeburt)
Geburtsverletzungen – die Gebärposition macht einen Unterschied
Neben dem Geburtstempo spiele die Gebärposition eine große Rolle, sagt Alexandra Löschen. Eine aufrechte Position wie zum Beispiel im Vierfüßlerstand oder im Stehen entlaste Beckenboden und Damm. Nina Kimmich empfiehlt, Geburtspositionen zu meiden, bei denen der Damm nicht beobachtet werden kann: in der tiefen Hocke, in der Badewanne oder teilweise im Stehen. Besser als die Rückenlage sei eine halbsitzende Position oder die Seitenlage. Den Damm unter der Geburt zu massieren und warme Kompressen aufzulegen helfe ebenfalls, Dammverletzungen zu vermeiden.
Wie Geburtsverletzungen vorbeugen?
In der Schwangerschaft gibt es laut Nina Kimmich wenig Wirksames, was die Frau tun kann, um Geburtsverletzungen zu vermeiden. Der Dammtrainer Epi-No, bei dem die Frau einen Ballon in ihre Scheide einführt und ihn langsam aufpumpt, um das Scheiden- und Dammgewebe an die Dehnung unter der Geburt zu gewöhnen, schütze nicht wirklich vor Geburtsverletzungen, sagt Kimmich. Auch die tägliche Dammmassage in den letzten Schwangerschaftswochen habe keine schützende Wirkung gezeigt.
Epi-No und Dammmassage könnten sich trotzdem positiv auswirken, sagt Kimmich: Durch die Massage und das Dehnungstraining setzten sich die Frauen mit ihrem Geburtskanal, dessen Dehnung und den Veränderungen unter der Geburt auseinander. Alexandra Löschen empfiehlt den Schwangeren, die sie betreut, den Damm zu massieren, wenn sie den Eindruck haben, es tue ihnen gut.
Der Faktor Bindegewebe
Ich habe in den letzten Wochen vor der Geburt täglich meinen Damm mit Massageöl massiert und er ist heil geblieben. Andere Frauen bewahre die Dammmassage jedoch nicht vor einem Riss, sagt Löschen. Wieder andere, die nicht massiert hätten, behielten trotzdem einen intakten Damm. Entscheidend sei, wie gut das Bindegewebe sei.
Geburtsverletzungen – die Macht der Gedanken
Die Psyche der Frau unter der Geburt, ob sie Angst hat oder entspannt ist, wirkt immens. Eine entspannte Frau erleide weniger Geburtsverletzungen als eine angespannte, sagt Alexandra Löschen. Verkrampfe die Frau, sei der Geburtskanal enger. Entspannung sei entscheidend, sagt auch Kimmich, vor allem für den Beckenboden. Spanne ihn die Frau an, werde er mehr als ohnehin schon belastet und eher verletzt. Deshalb sei es wichtig, Angst und Schmerz der Frau zu reduzieren, eventuell auch durch eine Periduralanästhesie (PDA). Kimmich verweist auf Entspannungstechniken. Die lassen sich auch schon vor der Geburt einüben.
Reisen im Geiste lenken vom Schmerz ab
Christiane Dietrich, Frauenärztin in Bielefeld, bietet Selbsthypnosekurse für Schwangere an. Darin leitet sie die Teilnehmerinnen zu Reisen im Geiste an, mit denen sich die Frauen möglichst auch während der Geburt, unter Schmerzen, ablenken. „Wie entspannt die Gebärende ist, wirkt sich maßgeblich auf den Verlauf der Geburt aus“, sagt Dietrich. Wichtig sei, dass die Frau zwischen den Wehen entspanne.
Wie lange heilen Geburtsverletzungen?
Viele Frauen seien nach acht Wochen beschwerdefrei, sagt Alexandra Löschen. Es könne aber auch mal bis zu zwei Jahre dauern, bis die Frau ganz schmerzfrei sei.
Was tun bei Geburtsverletzungen?
Die meisten Geburtsverletzungen, ob genäht oder nicht, heilen von alleine. Als ich fünf Monate nach der Geburt immer noch Schmerzen beim Geschlechtsverkehr empfand, unternahm ich so einiges:
- Vaginalmassage
- Beckenbodentraining
- Narbencreme
- Östrogencreme
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Geduld, Geduld und nochmals Geduld
Ich nahm eine Vaginalmassage bei einer Heilpraktikerin und Sexualtherapeutin. Mir war alles recht, Hauptsache, es würde besser. Durch die Massage wurde das Gewebe weicher und gab nach. Beim nächsten Geschlechtsverkehr ging es viel besser, es schmerzte aber immer noch. Auch die Heilpraktikerin sagte, ich bräuchte Geduld.
Beckenbodentraining mit Gewichten
Ich ging in die Kliniksprechstunde des Arztes von Milos Geburt. Er sagte, er habe jede Woche Patientinnen mit meinen Beschwerden, das sei erst einmal nichts Ungewöhnliches. Er empfahl mir Narben- und Östrogencreme und nahm mir die Sorge in puncto Stillen: Das Östrogen gehe nicht in die Muttermilch über. Zusätzlich schlug er vor, dass ich meinen Beckenboden mit Gewichten trainiere. Die führe ich in die Scheide ein und halte sie im Stehen und Gehen möglichst lange in mir. Nach meiner Erfahrung trainieren die Übungen aus der Rückbildungsgymnastik den Beckenboden jedoch wirkungsvoller.
Wird es jemals wieder wie vorher?
Inzwischen ist Milo ein Jahr alt, und ich habe immer noch etwas Schmerzen beim Sex und muss vorsichtig sein. Ich frage mich manchmal, ob es sich jemals wieder wie vorher anfühlen wird, mit meinem Mann zu schlafen. Sie empfehle mir weiterhin Vaginalmassagen und Östrogencreme, sagt Alexandra Löschen. Die Creme hatte ich nach ein paar Wochen abgesetzt.
Geburtsverletzungen – nach zwei Jahren ist alles wieder in Ordnung
Solange ich stillte produziere mein Körper mehr Östrogen, das mache meine Muskeln weicher, sagt Löschen. Auch den Beckenboden. Den brauchte ich auch beim Sex. Nach dem Abstillen dauere es je nachdem, wie intensiv ich den Beckenboden dann trainierte, Wochen bis Monate, bis er wieder so fest sei wie vor der Schwangerschaft. Spätestens nach zwei Jahren sei sicher wieder alles in Ordnung, schätzt sie.
Fazit
Auch wenn es aus medizinischer Sicht wenig gibt, das die Schwangere tun kann, um Geburtsverletzungen zu vermeiden, kann sie sich auf psychischer Ebene sehr gut vorbereiten. Es hilft, sich mit dem Ablauf der Geburt vertraut zu machen und Entspannungstechniken zu üben. Mir hat es im Nachhinein sehr geholfen, zu verstehen, wie und warum meine Geburtsverletzungen entstanden sind. Und zu erfahren, dass die Frau unter der Geburt etwas dazu beitragen kann, dass sie nicht reißt. Jetzt weiß ich, was ich bei der nächsten Geburt – wir wollen noch ein zweites Kind – anders machen kann. Auf geht’s!