Geschlechter-Klischees - besser als ihr Ruf?
Geschlechter-Klischees machen nicht Halt vor unseren Kindern. Wie sich das auswirkt, was es mit Gender Marketing auf sich hat und welchen Weg Autorin Tanja gefunden hat, mit Klischees, Hellblau und Rosa umzugehen, schreibt sie in unserer Elternkolumne.
Mama, ich möchte ein blaues Kleid haben!
Zwei große, dunkle Augen schauen mich an. „Mama, ich will ein blaues Kleid haben!“, sagt mein Sohn mit festem Blick. „Und ich brauche jetzt sofort eine Antwort!“, fährt er fort. Widerstand zwecklos. Ich streiche über die dicken, langen Haare, die der Dreijährige manchmal zum Zopf gebunden trägt. Ich verspreche, dass er sein blaues Kleid bekommt. Warum er es haben möchte? Ich habe absolut keine Ahnung. Es gab weder eine Gold-lockige kleine Schönheit im Kindergarten, die den Ausschlag gegeben hätte. Noch kennen wir Leute mit einer besonderen Liebe zu blauen Kleidern.
Ahoi!
Seit diesem Abend bleibt das blaue Kleid Dauerthema. Es vergeht kein Tag, an dem der Sohn mich nicht an mein Versprechen erinnert. Kurz vor Ostern arbeite ich mich durch die Mädchen-Abteilung eines schwedischen Textil-Kaufhauses. Ich werde sofort fündig. Zu meiner Freude ergattere ich ein Matrosenkleidchen – was für ein Sieg für mich als Hamburger Deern im bayerischen Exil!
Ein Kleid im Osterei
Zu Ostern haben wir das blaue Kleid hinter dem Teewagen versteckt. Nachdem der neue Anhänger fürs Bobbycar genug gewürdigt war, holt der Sohn das Matrosenkleidchen aus seinem Versteck hervor. „Mein blaues Kleid!“, juchzt das Kindergartenkind, als hätte es mindestens eine Autorennbahn mit zehn Loopings bekommen. Oder ein voll ausgerüstetes Puppenhaus.
Er will das Kleid nicht sofort anziehen. Lieber saust er vor Freude noch eine Runde ratternd mit dem Bobbycar über die gemarterten Dielen. „Willst du es anziehen?“, frage ich. "Gleich!" grölt mein Junge und rast davon in Siegerlaune, das Kleid unterm Arm. Dann steigt er ab und schlüpft in die Trophäe. Und die tauscht er erst wieder gegen den Schlafanzug ein. Unter Protest, versteht sich.
Der Morgen danach
Am Dienstag nach Ostern wartet die Kita. Ich ziehe Merlin auf Wunsch das Kleidchen an. Er sieht lachend an sich herunter und dreht sich im Kreis. In der Kita erfahre ich, dass Merlin die Betreuerinnen bereits über den Kleiderwunsch „informiert“ habe. Informiert! Aha. Ich bin erstaunt – nicht eine negative Bemerkung, keine Irritation, kein Spott. Gerade auf dem oberbayerischen Land hätte ich anderes erwartet. Tja, da lag das Vorurteil wohl auf meiner Seite.
Von Rosa, Rot und Blau
Für mich war dieses Erlebnis der perfekte Auftakt, mal wieder etwas dazuzulernen. Wieso verhalten sich Mädchen und Jungen oft so unterschiedlich? Weshalb lieben sie verschiedene Dinge, haben andere Heldinnen und Helden? Und – was hat es mit dieser Rosa-Blau-Geschichte auf sich?
In dem Buch „Die Wackelzahn-Pubertät“ von Laura Fröhlich erfahre ich, dass die Signalfarbe Rot in vielen Kulturen als Zeichen von Männlichkeit und Stärke galt. Der Farbton Rosa, auch das "kleine Rot" genannt, war ausschließlich Jungen vorbehalten. Mädchen wurden in Himmelblau gekleidet, da die Farbe noch Ende des 19. Jahrhunderts als anmutig und elegant galt. Warum sich das Ganze in den 1940er-Jahren drehte, lässt sich nur vermuten. Möglicherweise haben Handwerk und die Matrosen dazu beigetragen, Blau zur „Männersache“ zu machen.
Die Barbie ist schuld
Und da natürlich irgendjemand oder irgendetwas Schuld haben muss, küre ich die Barbie-Puppe zur Hauptverdächtigen. Die Firma Mattel zementierte 1959 mit der grell-pinken Puppen-Verpackung „Gender Marketing“ und damit das „neue“ Farbklischee. Bis heute bleibt kaum ein Mädchen-Kinderzimmer frei von diesem hochinfektiösen und giftigen Puppenvirus.
Was ist Gender Marketing?
„Gender Marketing“ hat sich die Spielwaren-Industrie ausgedacht. Es bedeutet, Produkte entweder „nur für Mädchen“ oder „nur für Jungen“ zu entwickeln. Diese Art Marketing habe wieder stark zugenommen, kritisiert Dr. Stevie Schmiedel von der Hamburger Initiative „Pinkstinks“. Das werte vor allem Mädchen ab.
Wie richtig die Aktivistin damit liegt, erfuhr ich, als ich bei einem bekannten Spielwaren-Hersteller als Sprachlehrerin arbeitete. Die Mädchen-Serien waren ausschließlich in Rosa gestaltet und umfassten nur Themen rund um Familie, Haus und Garten. Für die Jungen entstanden knallig-bunte Spielwelten mit unendlichen Möglichkeiten, sich selbst auszudrücken.
Und die Eltern halten sich an diese Mädchen-Jungen-Vorgaben? Mein Kunde sagte: ja, das tun sie. Die Absatz-Analysen lieferten eindeutige Ergebnisse.
Es ist zum Verrücktwerden: Ohne zu zucken, geben wir unsere Überzeugungen und Vorstellungen unreflektiert an unsere Kinder weiter. Und diese Überzeugungen mischen dann kräftig mit bei der kindlichen Entscheidung, ob der Bagger oder die Puppe den Zuschlag bekommt.
Kleid oder Bagger? – Es geht beides.
Apropos Bagger. Eines Morgens wollte Merlin partout keinen Pullover anziehen. „Da kann ich die Bagger nicht mehr sehen", lautete die Erklärung. Die Unterhemden mit den Baufahrzeugen lagen nämlich nach wie vor im Trend. Ich zog das Hemdchen einfach über die Hose, sodass ein paar Bagger, Traktoren und Mähdrescher hervorlugten.
Wir bestärken unseren Sohn, selbstständig nach Lösungen für kleinere Probleme zu suchen. Das half ihm, einen noch viel besseren und nachhaltigen Ausweg aus dem Unterhemd-Bagger-Dilemma zu finden: Ein Kleid mit Baggern musste her! Zum vierten Geburtstag bekam der Sohn von meiner Cousine tatsächlich ein selbstgenähtes Kleid mit Baumaschinen darauf geschenkt.
Erziehung doch versagt?
Kaum ein Jahr später beginnt eine vollkommen neue Ära. „Mama, Männer sind einfach wichtiger als Frauen. Und stärker!“, sagt der mittlerweile fünfjährige Merlin und stützt die Hände in die Seiten. Ich fasse es nicht. „Warum glaubst du das?“, bekomme ich gerade noch heraus. Lieber hätte ich ihm die Ungeheuerlichkeit seiner Aussage lautstark unter Missachtung sämtlicher Regeln der Gewaltfreien Kommunikation an den Kopf geworfen. Stattdessen überprüfen wir gemeinsam den Wahrheitsgehalt seiner Worte. Merlin kommt glücklicherweise selbst zum Schluss, dass das wohl doch nicht stimmt.
Geschlechter-Klischees als Spiegel
Allem Ärger zum Trotz: Kinder können über das Erleben und Erkennen von Geschlechter-Klischees viel über die Welt und unsere kulturellen Gepflogenheiten herauszubekommen. Sie können mit unserer Hilfe prüfen, ob Dinge, die sie hören, wirklich wahr sind. Sie erfahren, wie andere reagieren, wenn sie etwas behaupten. Und finden heraus, wie sich das alles anfühlt. Ich finde: Es ist unsere Aufgabe, Kinder auf diesem Abenteuer zu begleiten, sie zu sensibilisieren und ihr Urteilsvermögen zu schärfen.
Merlin ist jetzt sechs Jahre alt. Kleider trägt er keine mehr und die Haare sind ab. Dafür liebt er Elfen-Serien genauso wie Paw Patrol – und sympathisiert seit Neuestem mit einem Einhorn-Stofftier.
Auch, wenn ich Geschlechter-Klischees skeptisch gegenüberstehe: Ich habe meinen Frieden mit ihnen gemacht. Zumindest, bis mir das Kind das nächste Mal erklärt: „Also, Mama, Chefs können nur Männer sein. Und deswegen ist Jesus auch einer!“