Selbstfürsorge– wie man lernt, Grenzen zu ziehen und Nein zu sagen
„Kannst du das kurz übernehmen?“ und „Solltest du das nicht lieber anders machen?“ Vielen Menschen fällt es schwer, Nein zu sagen. Dabei ist es wichtig, Grenzen zu setzen, bevor einem alles über den Kopf wächst oder man sich selbst verliert. Wie wir lernen, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen.
Was für eine Woche! Es ist Freitagabend und am liebsten würde man direkt ins Bett fallen. Im Büro ist man für die Kollegin in die Bresche gesprungen, nachdem sie nicht hinterherkam mit der Arbeit. Mit den Eltern bahnt sich der nächste Konflikt an, weil sie mal wieder meinen, es besser zu wissen als man selbst. Und zu allem Überfluss klopft jetzt auch noch der Nachbar an die Tür, um sich auszuheulen und den Ballast von der Seele zu quatschen. Man hat zwar weder Zeit noch Nerven dafür, aber man öffnet dem Nachbarn die Tür, tut ihm den Gefallen und hört geduldig zu. Weil man es nicht übers Herz bringt, Nein zu sagen. Weil man es nicht schafft, die eigenen Wünsche in den Vordergrund zu stellen und den Abend einfach nur zu entspannen und für sich selbst zu sorgen.
Frauen sind häufig "Ja"-Sager
Viele Menschen sagen lieber zehnmal Ja als einmal Nein. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS gaben 81 Prozent der Befragten an, zu häufig Ja zu sagen und sich anschließend darüber zu ärgern. 38 Prozent fällt es schwer, Freunden abzusagen, und fast jeder zweite Teilnehmer schafft es nicht, den eigenen Eltern eine Bitte abzuschlagen. „Was du nicht willst dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ – dieses Sprichwort bringt auf den Punkt, warum viele Menschen fürchten, anderen mit einer Absage vor den Kopf zu stoßen.
Wir wissen: Ein Nein kann wehtun, und wir wollen Freunde, Verwandte und Kollegen nicht verletzen. Wir haben Angst vor dem schlechten Gewissen und davor, nicht mehr gemocht zu werden. Gerade Frauen neigen Experten zufolge dazu, es allen recht machen zu wollen. Sie übernehmen Extra-Arbeiten oder helfen aus, obwohl sie eigentlich keine Zeit haben oder sich überfordert fühlen. Die Ursachen finden sich oft in der Erziehung und festgefahrenen Rollenbildern. Während Jungs sturer daherkommen dürfen, lernen Mädchen früh, folgsam und hilfsbereit zu sein. Aber auch einige Männer bringen kein Nein über die Lippen und nicken alle Bitten ab.
Ja sagen ist leichter als Nein sagen
Die einen fürchten Ablehnung, wollen Anerkennung, gebraucht werden oder in keinem Fall anecken. Die anderen scheuen Konflikte oder wollen nicht als schwach und wenig belastbar erscheinen. Ganz gleich, welche Ursachen aber auch dahinterstecken, die Folgen sind oft dieselben: Stress, Überbelastung und Selbstaufgabe. Wer zu allem Ja und Amen sagt, läuft Gefahr, in die Falle zu tappen und ausgenutzt zu werden. Dann werden Gefälligkeiten zu Selbstverständlichkeiten – und schon ist man die Person, die jede Fahrt und Besorgung erledigt und immer den Kuchen backt, der auf der Party noch fehlt.
Klar, bewusst Nein sagen ist schwer – es ist aber allemal gesünder als ein Ja in Dauerschleife. Wer besser für sich selbst sorgt, spart Kraft und tut etwas für sein Wohlbefinden. Man fühlt sich ausgeglichener und entspannter, weil man sich nicht so viel Stress auflädt. Denn das „Nicht-Nein-sagen-Können“ führt nicht selten zu ständigem Druck und Überlastung, die sich auch körperlich niederschlagen kann in Form von Magen-Darm-Problemen, Kopfschmerzen oder chronischen Beschwerden. Umso wichtiger ist es, der Seele ab und zu eine Pause zu gönnen, damit sie zur Ruhe kommt und entspannt.
Wir können es nicht allen recht machen
Es gibt die Momente, in denen wir Nein denken, aber Ja sagen. Und hinterher sind wir wütend auf uns selbst. Wie aber lernen wir, Grenzen zu ziehen und uns vor Überforderung zu schützen? Wir haben die Kommunikationsberaterin Monika Radecki gefragt.
Frau Radecki, was habe ich eigentlich davon, wenn ich häufiger Nein sage und Grenzen setze?
Wir leben in einer Welt voller Angebote und Anfragen und da ist es wichtig, die Selbstfürsorge im Blick zu behalten. Viele Menschen wollen keine Schwäche zeigen oder fürchten Konflikte, wenn sie eine Bitte abschlagen. Die Welt wird aber nicht untergehen, wenn man in einem normalen Maße an sich selbst denkt. Im Gegenteil. Bin ich gut zu mir, bin ich gelassener im Job, ausgewogener in der Beziehung zu meinen Mitmenschen und effizienter, weil ich Prioritäten setze und mehr Zeit habe.
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Angenommen, ich habe nie gelernt, auch mal an mich selbst zu denken. Haben Sie praktische Tipps, wie ich die Fähigkeit zur Selbstfürsorge entwickeln kann?
Zunächst sollten Sie sich über die Auswirkungen im Klaren sein. Was haben Sie zu befürchten, wenn Sie Nein sagen? Es ist wichtig, das eigene Verhalten zu reflektieren: Gibt es Situationen, in denen Sie schon einmal eine Bitte abgeschlagen haben, und wenn ja: wie haben Sie das gemacht und wie fielen die Reaktionen aus? Die Befürchtungen, anschließend nicht mehr gemocht oder als schwach angesehen zu werden, entsprechen meist nicht der Realität. Am besten fängt man klein an und sagt Nein in ganz unbedenklichen Situationen. Anschließend belohnt man sich, bespricht die Erfolge mit jemandem oder notiert sie im Tagebuch. So lernt man Schritt für Schritt, häufiger Nein zu sagen.
Nein zu sagen kann auch bedeuten, Entscheidungen zu treffen. Wie schaffe ich es zum Beispiel, einen anderen Weg zu gehen, als meine Eltern ihn für mich vorgesehen haben?
Das ist ein besonderer Fall, weil Eltern in unserem Innern eine starke Macht ausüben und wir sie nicht enttäuschen wollen. Man sollte sich bewusstwerden, wie die konkreten Ziele und der Weg dorthin aussehen. Es ist wichtig, sich in eine starke innere Haltung zu bringen, in der man selbstbewusste Entscheidungen treffen kann. Wenn Sie Ihre Ziele und Wünsche klar formulieren und sich nicht gegen ihre Eltern stemmen oder über sie stellen, werden Sie mehr Verständnis für Sie aufbringen.
Monika Radecki ist Kommunikationsberaterin in Heidelberg. Sie gibt Workshops und ist unter anderem Autorin von „Nein sagen. Die besten Strategien“. Mehr Informationen gibt es auf monika-radecki.de
So lernen Sie, Grenzen zu setzen
- Verschaffen Sie sich ein Zeitpolster! Legen Sie sich nicht sofort fest, wenn jemand mit einer Bitte an Sie herantritt. Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen, sondern nehmen Sie Bedenkzeit, um abzuwägen. Vielleicht hat Ihr Gegenüber schon einen Plan B in der Tasche und die Bitte erledigt sich von selbst.
- Finden Sie heraus, warum es Ihnen so schwerfällt, Nein zu sagen und auf sich selbst zu achten. Haben Sie Angst vor Ablehnung? Sie können ohnehin nicht von allen gemocht werden. Haben Sie Angst vor Konsequenzen? Konflikten immer aus dem Weg zu gehen, raubt Ihnen die Unabhängigkeit. Sie wollen gebraucht werden? Achten Sie darauf, kein Helfersyndrom zu entwickeln und über kurz oder lang auszubrennen. Erlauben Sie sich, Nein zu sagen!
- Machen Sie sich klar, was ein Ja kostet. Rechnen Sie zusammen, wie viel Zeit Sie benötigen, wenn Sie sich nicht trauen, eine Bitte abzuschlagen. Was können Sie stattdessen tun? Es ist Ihre Zeit und Sie bestimmen darüber. Es sollte ein gesundes Gleichgewicht herrschen zwischen der Zeit, die Sie für andere aufwenden, und der für sich selbst.
- Zeigen Sie Haltung! Schauen Sie nicht verlegen in die Ecke und ziehen Sie nicht den Kopf ein, wenn Sie sich abgrenzen möchten. Versuchen Sie, aufrecht zu stehen und mit fester Stimme Ihre Bedürfnisse auszusprechen. Auf diese Art und Weise geben Sie sich selbst Rückendeckung.
- Treffen Sie freundliche, aber bestimmte Absagen. Begründen Sie das Nein, aber rechtfertigen Sie sich nicht. Ein „Nein, tut mir leid, ich kann dir leider nicht helfen, weil ich es nicht schaffe“ ist eine klare, aber freundliche Absage. Ein „Hm, ich weiß nicht. Vielleicht hast du doch recht“ zeigt Unsicherheit und erhöht die Gefahr, am Ende doch Ja zu sagen – obwohl man Nein denkt.
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